Anfang des Jahres hatte ich einen Video-Call mit dem Geschäftsführer und dem Vertriebsleiter eines Handels- und Dienstleistungsunternehmens aus Oberfranken. Was war passiert?
Das Unternehmen hatte Schwierigkeiten. Aufgrund der allgemein schwächelnden Wirtschaft waren die Umsätze in machen Bereichen sogar stark rückläufig. So weit nicht außergewöhnlich. So geht es vielen Unternehmen in dieser Zeit.
Vertriebs- und Geschäftsleitung hatten erkannt, dass die Neukundengewinnung überhaupt nicht und der Ausbau des Bestandskundengeschäfts nur sehr sporadisch funktionierte. Die Vertriebsmannschaft – sechs Außen- und vier Innendienst-Vertriebsmitarbeiter – in Schockstarre.
Im Video-Call erläuterten mir die beiden Manager, dass sie, zusammen mit dem Vertriebsteam, viel Hirnschmalz und Zeit in die Entwicklung einer operativen Vertriebsstrategie gesteckt hätten.
Man sehe bei den bestehenden Kunden zum Teil großes Potenzial für Cross- und Up-Selling, weil man viel mit Großunternehmen zu tun habe, bei denen man meist nur einen Teilbereich bedient. Ein großer Teil des Geschäfts gehe an den Wettbewerb, der einfach mehr Manpower hat und nicht zuletzt deshalb einfach tiefer in die Unternehmen eindringen und mehr Ansprechpartner und Entscheider ansprechen kann.
Für die Neukundengewinnung war man sich sicher, dass es nach wie vor, sowohl in Deutschland als auch in BeNeLux, der Schweiz und in Österreich, viele potenzielle Kunden gibt, die man bisher teilweise gar nicht kennt oder zu denen man überhaupt keinen Kontakt und Zugang hat.
Die Zielgruppen konnten somit relativ klar und nachvollziehbar definiert werden.
Der Plan sah also vor, dass die Großkunden, bei denen man Potenzial für Mehrumsatz vermutete vom Außendienst betreut werden und die kleineren Kunden, die lange nichts gekauft hatten oder die immer nur kleinere Mengen von meist denselben Produkten kauften, vom Innendienst per Telefon bearbeitet werden sollten.
Die Neukundengewinnung sollten ausschließlich vom Außendienst übernommen werden.
So weit so gut. Allerdings zeigte sich bei unserem Gespräch, zu dessen Zeitpunkt die „Kampagne“ schon über ein halbes Jahr am Laufen war, das die Erfolge der bis zu diesem Zeitpunkt gen Null tendierten. Die Vertriebsmitarbeiter, die sehr stark technisch orientiert waren und in den letzten Jahren fast ausschließlich über technische Expertise und Beratung verkauft hatten, waren mit den „neuen Aufgaben“ heillos überfordert. Tatsächlich wurden innerhalb von fast sieben Monaten kein einziger nennenswerter Neukunde gewonnen und auch die Bestandskundenumsätze waren eher weiter rückläufig, als dass sie sich in die positive Richtung bewegten.
Eigentlich ist es nicht meine Art, so großspurig aufzutreten. Von daher tat es mir sofort leid, dass ich mich im Gespräch mit dem Geschäftsführer und dem Vertriebsleiter zu der Aussage, „geben Sie mir drei vier Monate und Sie werden messbare Ergebnisse und spürbare Verbesserungen der Stimmung im Vertriebsteam haben“, hinreißen ließ. Nun ja, manchmal muss man halt mit dem Herzen und nicht mit dem Hirn argumentieren.
Das Unternehmen beauftragte das halbjahres-Programm „100% Vertriebs-Fokus“ und ich machte mich an die Arbeit.
Wir starteten mit einem Workshop, um die Ist-Situation zu analysieren und auf deren Basis die wirksame Strategie zu entwickeln und die erforderlichen Maßnahmen festzulegen.
Als nächstes folgte ein 2-tägiges Training, bei denen die Vertriebsmitarbeiter vor allem lernten, wie man LinkedIn sinnvoll und zielführend im Vertriebsprozess nutzt, wie die Ansprache der Entscheider und die professionelle Bedarfsermittlung und Einwandbehandlung erfolgen sollte und wie man sich als Vertriebsmitarbeiter organisiert, um wirklich effektiv in Richtung der Ziele zu arbeiten.
Um einen möglichst guten Praxistransfer sicherzustellen, folgten individuelle Coaching-Maßnahmen, bei denen ich als stiller Beobachter die Vertriebsmitarbeiter während ihrer praktischen Arbeit am Schreibtisch und bei den Kunden begleitete. Über Selbstreflektion, wertschätzendes Feedback und konkrete Tipps zur Optimierung der Gesprächsführung, wurden alte eingeschliffene Verhaltensmuster hinterfragt und neue zielführende Gewohnheiten entwickelt.
Zusätzlich dazu führten wir noch alle vier Wochen einen virtuellen Classroom durch, bei dem Fragen aus der Praxis geklärt und spezielle Themen vertieft wurden. Zum Ende des halben Jahres erfolgte noch ein weiteres 2-tägiges Training, bei dem besonders die Themen Angebotsmanagement, Gesprächsführung und Preisverhandlung, mit ganz vielen praktischen Übungen, im Fokus standen.
Das Teilnehmer-Feedback, die Teilerfolge und die Entwicklung während des Programms ließen schon erahnen, dass die Maßnahmen nicht ohne Wirkung bleiben würde. Trotzdem war ich gespannt, ob ich meinen Mund vielleicht doch ein bisschen zu voll genommen hatte.
Das Abschlussgespräch Ende Oktober, mit dem Vertriebsleiter und Geschäftsführer, brachte Gewissheit. Natürlich ging die weitere Konjunkturschwäche nicht ganz an dem Unternehmen vorbei, sodass insgesamt ein Rückgang zu verzeichnen war. Trotzdem konnten, gegen den Markttrend, mehrere zum Teil große Kunden gewonnen und auch bei der Entwicklung der Key-Account-Kunden sowie der Kundenreaktivierung deutlich messbare und mehr als zufriedenstellende Erfolge erzielt werden. Wir planen eine Fortsetzung im kommenden Jahr, um die weitere Entwicklung zu unterstützen.
Fazit: 100% Vertriebs-Fokus ist ein hoher Anspruch, den aber jedes Unternehmen anstreben sollte. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, gilt es, klare Strategien zu entwickeln und die Menschen, ohne die es, trotz Digitalisierung, nicht geht, mitzunehmen und zu unterstützen. Wenn das gelingt, sind ungeahnte Erfolge möglich.
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Holger Steitz ist Trainer, Berater, Coach und Autor für Vertrieb und Kundengewinnung, Modern-Selling, Führung und Verhandlungstechniken im B2B-Umfeld. Er trainiert und coacht Führungskräfte und Mitarbeiter im Vertrieb und unterstützt mit seinem Team B2B-Unternehmen bei der Entwicklung und Optimierung von Vertriebsstrategien und bei der Umsetzung von Konzepten zur Neukundengewinnung, durch aktive Vertriebsunterstützung, für erklärungsbedürftige Produkte und Dienstleistungen.
Als Autor von mehreren Fachbüchern über den B2B-Vertrieb und die Arbeit als Vertriebsmitarbeiter sowie verschiedene Beiträge in Social-Media und Fachportalen, liefert er immer wieder hilfreiche Impulse für die Praxis.
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